Allgemein, Gastbeiträge 7. Januar 2024

PTBS – die etwas andere Silvestergeschichte

von Anonym

Artikel behandelt Themen mit möglicherweise belastenden Inhalten, für sensible und traumaerfahrene Personen.

Hier gibt es eine Übersicht der Hilfsangebote bei PTBS

Silvester – ein Tag, den viele nutzen, um mit den schönen, aber auch negativen Erfahrungen des alten Jahres abzuschließen. Gefühlt verbinden 98 % aller Deutschen mit diesem Tag nur Positives. Vor allem dem dazugehörigen Böllern und dem abschließenden Feuerwerk um Mitternacht wird schon einige Tage vorher große Bedeutung zugeschrieben. Für viele Menschen ist das die übliche Art, um in ein neues, hoffentlich schönes Jahr zu starten. Lest  nun über die andere Seite dieser Nacht.

Ein Gefühl der Einsamkeit

Irgendwo in Deutschland passiert Tage vor Silvester 2023 etwas völlig anderes. Da lebt ein Soldat mitten in unserer Gesellschaft, männlich, Mitte 40, verheiratet und Vater von wundervollen Kindern. Schon lange kämpft er mit den Erinnerungen seiner Auslandseinsätze und fand sich in der zivilen Berufswelt nach all den Erlebnissen in Afghanistan nicht wirklich zurecht. Also ist er zur Bundeswehr zurückgekehrt. Aber auch da wollte der Alltag nicht mehr so gelingen wie früher, als die Welt für ihn noch in Ordnung war.

Heimlich, leise und unbemerkt von seinen Kameraden begann er immer mehr, seine Schmerzen in Alkohol zu ertränken. Anfangs schwächte es die Ängste ab, aber dann wurden die Probleme und der Schmerz immer größer. Seine Familie konnte seine Veränderung eine Zeitlang ertragen, jedoch ist es in der Weihnachtswoche so schlimm geworden, dass sich seine Frau mit den Kindern schützen wollte und ihn dazu bewegen konnte, erstmal in die Kaserne zu ziehen.

Mit sich völlig allein ertrug er die dunklen Tage nicht und suchte den Kontakt zu seinen ehemaligen Kameraden aus Afghanistan, fest davon überzeugt, nur die können ihn wirklich verstehen. Sie hatten doch viele absurde Situationen mit ihm zusammen erlebt. Sie wissen genau, was ihr Kamerad gerade durchmacht, weil sie all das auch schon hinter sich haben. Doch weit weg bei ihren eigenen Familien lebend, ist es schwierig für sie, dem Kameraden zu helfen.

Mit vielen Telefonaten und Hilfsangeboten versuchten seine Kameraden und auch Kameraden, die er überhaupt nicht kannte, ein Netzwerk der Hilfe für ihn zu bilden, um diese Tage zu überstehen. Der Alkohol, der wiedermal alles richten sollte, und das ständige Knallen der Böller und die Lichtblitze von Silvesterraketen forderten ihren Tribut mit Flashbacks. Er wollte mit seiner Frau reden, damit sie verstehen könnte, dass er sie auf seine Art immer lieben würde, obwohl er sich so sehr verändert hat, aber auch um zu zeigen, dass er ihre Hilfe dringender denn je braucht. Das war sein Ziel, als er an diesem Tag doch nach Hause ging. In seinem hochgradig depressiven Zustand konnte das nicht gut gehen.

Ein Gefühl der Ohnmacht

Verständlicherweise hatten seine Frau und seine Kinder Angst vor ihm, wie schon so oft vorher. Gerne würden sie ihm helfen, für ihn da sein, aber er war einfach nicht mehr derselbe nach all dem Erlebten in seinen Auslandseinsätzen. Und wie sollten sie ihm überhaupt helfen können, denn sie mussten sich selbst schützen, ja auch vor ihm. Auch wenn sie es gerne wollten, ihre eigene Unsicherheit war viel zu groß, und so baten sie ihn, doch wieder zu gehen.

In seiner Befangenheit bewertete er dies als Unverständnis derer, die er doch so liebt. Er zog sich an einen, ihm vertrauten Ort zu Hause zurück und trank weiter. Er verlor die Kontrolle über all seine Gedanken und wollte nur noch, dass dieser verdammte Schmerz in ihm aufhört. Es reifte ein Entschluss in ihm, weil er seiner Familie nicht mehr zur Last fallen wollte. Er wusste tief in seinem Inneren genau, was er seiner Familie durch seine Veränderung schon alles zugemutet hatte.

Einmal noch wollte er mit seinem Kameraden aus Afghanistan reden, ihm erklären, warum so alles keinen Sinn mehr hat. Vielleicht wollte er auch ein „Okay“ hören, für das, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, nämlich dem allen und sich selbst ein Ende zu bereiten. Sein Kamerad wusste, was er da durchmachte, denn auch er hatte das alles schon hinter sich. Es war ihm klar, dass er ihn mit Reden nicht davon abhalten konnte, das Falsche zu tun. In diesem unendlichen Schmerz und Durcheinander in Herz und Kopf, gibt es den Moment, in dem das eigene Ende die einzige Lösung scheint. Was vermag man zu tun in einer solchen Situation so weit entfernt, wenn man spürt, dass kein Wort etwas nützt.

Einzig die Bitte an den verzweifelten Kameraden, jetzt mit dessen Frau reden zu dürfen, um auch sie zu verstehen, lies er zu. Damit hatte er die Chance, sie zu bewegen, die Polizei zu rufen. Nur sie wusste, wo genau sich ihr Mann aufhielt. Sie weigerte sich, weil sie Ihrem Mann nicht schaden wollte, aber erkannte schließlich, dass es keine andere Möglichkeit geben würde, um sich und ihre Kinder zu schützen, aber auch ihren Mann zu retten.

Ein Gefühl der Angst

Es verstrichen zähe Minuten, die sich wie Ewigkeiten anfühlten, als endlich das Handy klingelte und sich ein Polizist meldete. Sind Sie Herr … ? „Ja.“ war seine Antwort, „ich bin sein Kamerad, der mit ihm seit Tagen in Kontakt steht und auch an diesem Abend mit ihm telefoniert hat.“ Er bebte vor Angst, ob er in dieser Silvesternacht einen weiteren Kameraden verloren hat, der von seinen Dämonen besiegt wurde. Mit Gänsehaut wartete er auf die Nachricht, ob ihre Kameradschaft und das, was sie damit verbindet, all die schlimmen und auch schönen Erlebnisse ihrer gemeinsamen Einsätze, nicht doch die Option für ihn war, weiterleben zu wollen. War es denn nicht seine Familie wert, dass er sich all dem stellen und den Kampf aufnehmen sollte? So wie in ihren gemeinsamen Einsätzen, die ihr Wesen verändert hatten und sie aber trotzdem das Leben wie vorher weiterleben sollten. In seinem Kopf rauschte es wild mit all den Fragen und unausgesprochenen Antworten.

„Wir haben ihren Kameraden überwältigen müssen, da er sich von uns bedroht fühlte, stark alkoholisiert und äußerst aggressiv war. Seine Frau sagte uns, sie hätten ihr geraten uns zu rufen und sie haben die ganze Zeit mit Herrn … telefoniert. Ist es richtig, dass er Suizid – Absichten ihnen gegenüber geäußert hat?“

Er bestätigte dies und erklärte dem verständnisvollen Polizisten auch, dass sein Kamerad in einer für ihn schwierigen Ausnahmesituation steckte und gerade in vielen Erinnerungen aus Einsätzen sei, die sein Handeln nicht entschuldigen, jedoch erklären würden. „Das ist gut“, erwiderte er, „Wir werden dafür sorgen, dass er erstmal die Unterstützung bekommt, die jetzt gerade notwendig ist.“ Er war unendlich dankbar, für diese Antwort und dass der Polizist anscheinend wusste, was es heißt Einsatzveteran zu sein.

Ein Gefühl des Verrats

Ein paar letzte Worte durfte er noch mit seinem Kameraden wechseln. „Man wird dir helfen“, sagte er ihm. Seine Antwort klang wütend, weil er das nicht so sah. In seinen Augen hatte ihn sein Kamerad an die Polizei verraten. Damit gab er ihm das Gefühl verantwortlich zu sein, dass er erstmal im Krankenhaus vor sich selbst geschützt werden musste. Das traf diesen tief in seiner Kameradenseele und belastete sein Gewissen sehr. Er wusste aber auch, dass nun ein Prozess des Helfens beginnt. Dass Helfende aus seinem Umfeld und seiner Familie dafür sorgen werden, dass er die Möglichkeit bekommt, den Schritt zurück ins Leben zu gehen, auch wenn dieser weiterhin sehr steinig sein wird. Seine Erleichterung war groß, als auch seine Familie Hilfe annahm, da sie gemerkt haben, dass solche dramatischen Ereignisse nicht allein zu bewältigen sind. Er spürte Dankbarkeit für all die Menschen, die seinem Kameraden und seinen Lieben auf dem Weg zurück ins Leben die Hand reichen und noch reichen werden, obwohl sie ihn und seine Familie nicht kennen.

Das ist Kameradschaft, die es nur unter Menschen gibt, die ein gemeinsames Ziel haben, mit und ohne Uniform. Sie stehen für einander ein, ob sie sich kennen oder nicht. Sie sind da, auch wenn viel Zeit und die Entfernung die Wege oft trennen!

Dies ist die etwas andere Silvestergeschichte. Die, die neben den massenhaft schönen Momenten dieser Nacht auch die Schattenseiten aufzeigt. Sie wirft die berechtigte Frage auf, wie viele in dieser Nacht nicht die Möglichkeit bekommen haben, den Weg zurück ins Leben zu gehen und Opfer Ihrer depressiven Zustände geworden sind. Wie viele hätten diesen einen Kameraden gebraucht, der zur richtigen Zeit da war und wie viele waren da und konnten doch nicht das Schlimmste verhindern?

Solche wahren Begebenheiten und dramatischen Stunden in dieser Silvesternacht scheinen unwirklich und der Fantasie entsprungen, wo doch alles im Feiern so friedlich scheint! Machen wir uns einmal mehr bewusst, gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet füreinander da zu sein und die im Blick zu haben, die ein Schattendasein führen, obwohl sie mitten unter uns sind, denn das ist real und keine Fantasie!

Fotos: Halfpoint Images

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