Ortskräfte in Afghanistan ein Artikel von Wolf Gregis
„Das Leben meiner ganzen Familie ist von den Taliban bedroht. Bitte helft uns, aus Afghanistan herauszukommen!“
Amir S. ehemalige Ortskraft aus Afghanistan
Die Situation der afghanischen Ortskräfte verschlechtert sich mit jedem Tag
Seit dem Abzug der letzten NATO-Soldaten vom Hindukusch Ende Juni 2021 übernehmen die Taliban Schritt für Schritt die Kontrolle über das Land. 50 Prozent der Verwaltungsdistrikte sind bereits in der Hand der islamistischen Terrorgruppe, der Großteil des verbleibenden Landes umkämpft. Der afghanischen Regierung bleiben nur noch wenige städtische Zentren als Rückzugsraum.
So auch Mazar-e-Sharif im Norden des Landes
Die mit 430.000 Einwohnern viertgrößte Stadt Afghanistans war bis vor Kurzem Kommandositz der deutschen Präsenz am Hindukusch. Seit dem fluchtartigen Abzug der letzten Bundeswehr-Soldatinnen und -soldaten im Juni schließt sich der Ring der Taliban um die Stadt jedoch enger. Sie befindet sich aktuell unter Belagerung.
Darin eingeschlossen sind Hunderte oder mehr afghanische Ortskräfte. Ihre genaue Zahl kennt nur die Bundesregierung oder niemand. Sie haben jahrelang direkt oder indirekt für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt oder andere deutsche Behörden und Institutionen gearbeitet: als Sprachmittler, Berater, Handwerker, Fluglosten, Wachmänner, Köche, Reinigungskräfte und vieles andere mehr.
Sie fühlen sich nach dem überraschenden Abzug der Deutschen im Stich gelassen, ihre Situation ist tragisch
„Ich bekomme Morddrohungen von den Taliban und kann nicht aus dem Haus rauskommen. Ich kann auch nicht mehr als Tagelöhner arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Ich bin auch finanziell am Ende“, so eine Ortskraft im privaten Chat mit dem Autor. Genannt werden möchte er nicht, aus Angst vor Racheakten. „Es gibt auch viele Leute, die mich mit Mord bedrohen wollen und sagen: ‚Wenn die Taliban kommen, werde ich dich melden, dass du mit Ausländern gearbeitet hast.‘“
Die Bundesregierung hat den ehemaligen deutschen Ortskräften längst ein Visum zugesichert, über 2.400 wurden für sie und ihre Familien bereits genehmigt, aber nur wenigen Hundert gelang es bisher, nach Deutschland auszureisen. Der Grund für die geringe Zahl liegt im Visumverfahren selbst begründet.
Amir S. (Name aus Sicherheitsgründen geändert) hat sechs Jahre als Fluglotse für die Bundeswehr in Mazar-e-Sharif gearbeitet. Jetzt schweben er und seine Familie in Lebensgefahr. Um ein Visum zu beantragen, muss Amir von Mazar-e-Sharif nach Kabul reisen, um dort bei der zuständigen International Organization for Migration sein Anliegen vorzutragen und dessen Rechtmäßigkeit mit einschlägigen Dokumenten nachzuweisen. Die Reise ist notwendig, da aufgrund der akuten Gefährdungslage in Mazar-e-Sharif Deutschland bisher kein eigenes Büro vor Ort eingerichtet hat. Im Falle einer Genehmigung in Kabul dürfte Amir auf eigene Kosten nach Deutschland ausreisen.
Für Amir und seine Familie bedeutet dieses Verfahren Todesgefahr
Alle Zufahrtsstraßen nach Mazar-e-Sharif werden von den Taliban überwacht. Selbst wenn es Amir gelingt, mit all seinen Dokumenten unbemerkt aus der Stadt zu fliehen, stehen ihm noch 426 Kilometer nach Kabul bevor. Der Weg über den Hindukusch dorthin führt nur über die sogenannte Ring Road, die einzige Verbindung zwischen den beiden Städten. Und diese steht unter Kontrolle der Taliban. An neuralgischen Punkten haben sie Checkpoints eingerichtet und kontrollieren so den Transitverkehr. Sollte Amir an einer dieser Sperren von den Taliban angehalten und durchsucht werden, fallen ihnen alle Dokumente in die Hände, die seine Zusammenarbeit mit den deutschen Ausländern belegen. Es droht ihm eine augenblickliche Hinrichtung am Straßenrand.
Mit Glück erreicht Amir vielleicht Kabul und die International Organization for Migration. Berichten zufolge ist die Organisation im Moment überlastet und dem Infarkt nahe. Internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden aufgrund der bedrohlichen Sicherheitslage in ihre Heimatländer zurückgerufen, afghanische Ortskräfte sind in die technisch aufwändigen Visumverfahren, beispielsweise beim Scannen von Fingerabdrücken, nur unzureichend eingewiesen. Gelingt es Amir dennoch, sein Anliegen vorzutragen, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit unmittelbar einen ablehnenden Bescheid erhalten: Er war bei einem afghanischen Subunternehmer angestellt und hat damit keinen Visumanspruch, obwohl er von deutschen Soldaten ausgebildet wurde und mit ihnen jahrelang arbeitete. Ein schwerwiegender Unterschied. Aber nur für die deutsche Bürokratie. „Die Taliban machen keinen Unterschied, ob jemand einen deutschen Arbeitsvertrag hat oder nicht“, so eine andere Ortskraft in einem privaten Schreiben. „Die Taliban sagen, wer mit Ausländern gearbeitet hat, muss getötet und geschlachtet werden.“
Nun sucht Amir deutsche Soldaten, die bezeugen können, dass er eine direkt bei der Bundesrepublik angestellten Ortskraft gleichgestellte Tätigkeit ausgeübt hat. Ausgang ungewiss. Selbst im Falle eines Erfolgs werden Amir und seine Familie den Flug nach Deutschland wohl trotz Visum nicht antreten können. Die Kosten dafür betragen pro Person derzeit circa 700 €.
Der Sprecher der Bundesregierung Steffen Seibert versicherte Anfang Juli: „Wir werden denen helfen – und helfen ihnen schon – die uns geholfen haben (…) und wir kennen die Verantwortung, die wir für diese Menschen haben.“ Allein die Zeit wird knapp. Wie lange die Flughäfen in Mazar-e-Sharif und Kabul offengehalten werden können, vermag niemand zu sagen. Ehemalige Ortskräfte berichten in diesen Tagen von Raketenangriffen sowohl auf den Flughafen in Mazar-e-Sharif als auch auf die Stadt Kabul.
Um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, hat Kirstin Kroneberger eine Petition über den Verein Campact e V. gestartet, der unter dem Motto „Demokratie in Aktion“ Online-Kampagnen organisiert:
„Wir fordern die unbürokratische Aufnahme der Ortskräfte aus Afghanistan, welche die Bundeswehr und Subunternehmen während Ihrer Einsätze vor Ort gegen die Taliban unterstützten. Wir dürfen diese Menschen nicht der Gewalt der Taliban ausliefern und müssen ihnen eine sichere Zukunft in Deutschland bieten.“
Campact e V.
Ziel der Kampagne ist es, 75.000 Unterschriften zu sammeln, um allen Hilfskräften der Bundesrepublik – unabhängig von einem direkten oder indirekten Anstellungsverhältnis – die Ausreise nach Deutschland bei voller Kostenübernahme zu ermöglichen. 65.000 Unterschriften wurden bereits gesammelt, eine Beteiligung ist unter der Internetadresse www.weact.campact.de/p/Afghanistan möglich. „Das ist das Mindeste, was wir diesen Menschen schulden“, so Kroneberger.
Titelbild: Detlef Förster
Nicht nur für die Ortskräfte ist die Situation schwer
Auch viele Einsatzrückkehrer und ihre Angehörigen haben mit den Belastungen aus den Kriegserlebnissen zu kämpfen. Darum organisieren wir gemeinsam mit unserem Partner amitumKids entlastende Aus-Zeiten vom Trauma